Achter Brief an Samira: Vier Jahre und vier Wörter

Vier Jahre ist es nun her, dass die syrische Aktivistin und Dissidentin Samira Khalil entführt wurde. Ihr Mann Yassin Al Haj Saleh hat seitdem mit großen Sorgen und tiefer Sehnsucht zu kämpfen. Im achten Brief an seine verschwundene Frau schreibt er davon, was ihn weiterhin antreibt: Schmerz, Hoffnung, Arbeit und Liebe. Elf Briefe hat Yassin an seine verschwundene Frau geschrieben. 

Samm


our,

Ich lausche deinem Lieblingslied, gesungen von Nahawand, und denke an dich:

» O Morgendämmerung, wenn du dich zeigst / wecke die Augen aller Menschen / und die meiner Liebsten zuerst. «

Ich kann nicht aufhören die Gläubigen zu fragen: »Warum ist das alles mit uns passiert? Hätte es genauso gut nicht geschehen können? Es hätte, Sammour! Ich bin nicht von einem »unabwendbaren Schicksal« überzeugt, welches dir bestimmt hat, jahrelang zu verschwinden.

Heute sind es vier Jahre, fast so lang wie die vier Jahre, die du früher einmal im Gefängnis des syrischen Regimes verbracht hast. Warum musstest du verschwinden? Ich wünschte, diese Prüfung wäre uns erspart geblieben.

Aber du bist fort, und deine Abwesenheit ist meine Sache. Ich lebe und hadere die ganze Zeit damit, und ich weiß nicht, was aus diesem Hadern werden wird, aber ich weiß, dass die Rache auf meiner Seite ist und nicht stirbt.

» Wenn du durch das Viertel läufst / trägst du Fackeln des Lichts! «

Ich weiß, dass es während deiner Abwesenheit keine andere Lösung gibt als weiterzuarbeiten, Sammour. Ich weiß, dass das richtig ist, aber ich finde in dieser Gewissheit keinen Trost. Sicher ist nur, dass deine Abwesenheit schwierig zu ertragen ist und es keine Arbeit gibt, die ihre Leere füllen kann. Richtig wäre, wenn du zurückkehrtest, eher gestern als heute.

Ich denke darüber nach, Sammour, dass das Hadern mit dem Abwesenden und dem Verborgenen das ist, was Religionen begründete. Während man sich mit der sichtbaren, präsenten Welt auseinandersetzt, überlässt man das Abwesende der Religion. Aber ich habe mit der Religion und ihren Menschen nichts zu tun, ich interessiere mich nur für die Verschwundene. Ich beschäftige mich mit dem Verlust, dem Verlieren und Vergessen, nicht aber mit Glaubensinhalten und Überzeugungen, die zu einer erstickenden und bösartigen Präsenz werden. Im Gegenteil, ich versuche, diese brutale, erbärmliche Präsenz, die zu deinem Verschwinden geführt hat, zu zerstören. Ich weiß nicht, wie ich mit deiner Abwesenheit leben soll, aber sie gehört zu mir, sie ist etwas sehr Persönliches, mit dem ich streite, verhandele und lebe. Ich vergesse sie nicht, ich ignoriere sie nicht und ich will nicht, dass sie mir leicht fällt. Meine Trauer ist wie ein treuer Freund, der mich nicht verlässt und mir die Dinge nicht erleichtert.

 

Samira Khalil und Yassin al-Haj Saleh

Briefe an Samira

Am 9. Dezember 2013 wurde Samira Khalil in Douma, einem Vorort von Damaskus, entführt. Sie ist bis heute verschwunden. Ihr Ehemann Yassin al-Haj Saleh ist syrischer Schriftsteller und Dissident und verbrachte 16 Jahre in einem syrischen Gefängnis. In dieser Reihe von Briefen schreibt er seiner Frau, wie sich die Lage in Syrien seit ihrem Verschwinden entwickelt hat. mehr...

Ich betrachte Deine Abwesenheit nicht deshalb als etwas Persönliches, weil ich die öffentliche Bedeutung Deines Verlustes leugnen würde. Ich glaube vielmehr, dass die Öffentlichkeit heute eine grundsätzlich andere Herangehensweise braucht und unsere Geschichten, Biografien und Schicksalsschläge auf völlig neue Weise einbeziehen muss. Ich möchte eine Öffentlichkeit, die von den Lebenden geschätzt wird, die von den Lebenden aus ihren eigenen Namen, aus ihren Gesichtszügen, ihren Bildern, ihren Gefängnissen und Exilen selbst zusammengesetzt wird; ich möchte keine schändliche Öffentlichkeit, die wie ein Geist über dem Leben und den Lebenden schwebt. Ich möchte keine Öffentlichkeit, die mir sagt (und das passiert leider): »Ist Samira etwa die Einzige, die verschwunden ist? Bist du etwa der Einzige, der einen Verlust erlitten hat?« Diese Öffentlichkeit will ich nicht.

Ich will eine Öffentlichkeit, die mit vielen Augen sieht, eine, in der wir leben und uns selbst kennenlernen. Keine blinde Öffentlichkeit, in der wir wie Fremde leben und die nur in einem guten Zustand ist, wenn unsere Physiognomien, unsere Sinne und unsere Namen ausgelöscht sind.

» Besuch das Haus meiner Geliebten! «

Aber während nun vier Jahre seit deinem Verschwinden vergangen sind, denke ich an vier Wörter, die mir helfen, damit zurechtzukommen, mir dein Verschwinden zu eigen zu machen, Wörter, die zu mir gehören und mich genauso angehen, wie sie andere Menschen betreffen.

Das erste Wort ist Schmerz. Das ist etwas sehr Persönliches. Der Schmerz lässt nicht nach, für ihn gibt es keine Lösung, er lässt sich nicht übertragen und nicht teilen. Wir haben viele Freunde, und ich weiß, wie viele an unserer Geschichte Anteil nehmen. Ich weiß, wie sehr sie ihre Gefühle vor mir verbergen, weil sie die Ungeheuerlichkeit und die zunehmende Last der Geschichte realisieren und mich davor schützen wollen. Auch ich will sie schützen, so gut ich kann. Oft gelingt es mir nicht. Wir verstehen uns, ohne ein Wort zu sagen: Weder sollen sie Angst um mich haben, noch ich um sie. Aber immer gibt es etwas, was sich nicht übertragen und nicht teilen lässt, nicht sagen und nicht aufschreiben lässt. Weder ein Schriftsteller, der den Wörtern vertraut, noch jemand anderer kann den Schmerz darstellen, den die Abwesenheit hinterlässt, ihre scharfen Kanten, niemand kann sie örtlich oder zeitlich begrenzen.

Bei der Übertragung und Beschreibung geht viel, fast alles verloren. Sie wird zu einer Idee, zu einer Einladung, sie zu teilen und Anteil an ihr zu nehmen. Vielleicht ist es das einzig mögliche, und die Menschen scharen sich darum und bilden eine Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft kondoliert, sie entsteht um das Beileid herum. Gemeinschaft ist Schmerzbehandlung. Vielleicht droht unsere Gemeinschaft zusammenzubrechen, Sammour, weil sie selbst lange Zeit so furchtbare Schmerzen erlitten hat, dass die Menschen und Gruppierungen nicht mehr in der Lage sind, sich auszudrücken und zu kondolieren. Sie isolieren sich voneinander und verbergen ihre Schmerzen und Wunden in ihren engen privaten Sphären. Gemeinschaft existiert nicht mehr!

Das zweite Wort ist Hoffnung. Du weißt, dass ich im Gefängnis gegen die Verzweiflung immunisiert wurde, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass ich eine starke Hoffnung habe. Ich habe gerade einmal so viel, dass es ausreicht, gegen die Verzweiflung anzukämpfen und weiterzuarbeiten. Immunisierung bedeutet, gerade so viel von dem Impfstoff zu schlucken, dass man Schlimmerem widerstehen kann. Ein wenig Verzweiflung, um der größeren Verzweiflung widerstehen zu können. Meine Hoffnung ist diese kleine Verzweiflung, die notwendig ist, um weiterzumachen.

In dieser Situation, die seit zwei Generationen andauert, also unser ganzes Leben, deines und meines, sehe ich heute die Verzweiflung nicht als einen Gegensatz zur Hoffnung, sondern als Todesverachtung, als einen Konflikt zwischen zwei Arten der Hoffnungslosigkeit. Gegen deine Abwesenheit ankämpfend, sehe ich heute, Sammour, dass die Hoffnung eine besonders radikale Kraft ist, sie ist verzweifelter als die Verzweiflung selbst. Es ist das, was uns nicht im Stich lässt, wenn uns alles verlässt; was erst kapituliert, wenn wir kapitulieren. Diese essentielle Hoffnung ist ein Synonym für das Leben. Aber sie löst eine andere Hoffnung nicht auf, eine positivere; die Hoffnung, die wir erschaffen und mit anderen teilen, wenn wir produktiv und kreativ sind, wenn wir lieben, wenn wir uns verändern und uns an der Veränderung der Welt beteiligen.

Ich spüre diese beiden Weisen der Hoffnung, Sammour. Die eine, die die radikale Kraft des Lebens ist, die verzweifelte Kraft für das Weitermachen. Und die andere Hoffnung, die als Folge schöpferischen Tuns entsteht, wenn wir wählen, verändern, kooperieren. Deine Abwesenheit hat bei mir beide Hoffnungen genährt: die verzweifelte Hoffnung, die gegen die Verzweiflung immunisiert, und die hoffende Hoffnung, die Neues erschafft, die kreative Hoffnung, die stets nach Veränderung strebt, die radikale Hoffnung, die nicht stirbt, die revolutionäre Hoffnung, die das Leben mit Neuem, mit Freiheit und Sinn auflädt.

» Mein Herz hat ein Rendezvous mit ihr! «

Das dritte Wort ist Arbeit. Du weißt, wie gerne ich gearbeitet habe. Diese Arbeit ist heute während deiner Abwesenheit mein Gegengift, Sammour. Es ist mein Mittel, um Hoffnung zu schöpfen. Mit ihr kämpfe ich gegen deine Abwesenheit an. Mit ihr versuche ich, mir diese Abwesenheit anzueignen. Einmal dachte ich, dass mein Schweigen, das erst mit deiner Rückkehr enden wird, die einzig mögliche Bestrafung für den größten Fehler meines Lebens sein könnte, für diese Reise nach Rakka am Abend des 10. Juli 2013. Ich überlegte, all meine Wörter zu opfern – was bedeuten würde, meine ganze Arbeit – bevor du zurückkehrst. Ich überlegte, für immer mit dem Schreiben aufzuhören. Aber nicht, weil ich mich nicht traute, diesen Entschluss zu fassen, hörte ich nicht auf zu schreiben, sondern weil es dem Strecken der Waffen mitten in der Schlacht gleichkäme. Das Schreiben hilft mir nicht nur, dich zu verteidigen oder weiterzukämpfen oder überhaupt weiterzuleben, sondern es hilft vielleicht auch anderen, die in einer ähnlichen Situation sind, zu ertragen, was nicht zu ertragen ist.

Es hätte mir eine Hilfe sein können, Sammour, wenn ich Bücher, Texte oder Filme gefunden hätte, die eine ähnliche Situation wie die unsere behandeln. Wenn ich gewusst hätte, mit welchen Schwierigkeiten sich jene konfrontiert sahen, die in einer ähnlichen Situation waren, welche Strategien sie entwickelten, wie sie scheiterten, welche Verzweiflung sie umtrieb, welche Hoffnungen sie hegten, welche Erlösung sie fanden. Sind es viele? Ich glaube, dass es nicht wenige sind. Auf jeden Fall müssen wir damit rechnen, dass es viele sind, denn in der heutigen Welt wird es sie sicher geben, wenn sie nicht schon vorher da waren.

» Ich fürchte, diese Nacht kehrt zurück, und sein Geliebter taucht nicht auf! «

Liebe ist mein viertes Wort. Es vereint mich mit dir und stärkt meine Entschlossenheit, in deiner Abwesenheit Samira zu sein.

Vor mir liegt ein kleines Bild von uns beiden, das Mounira Al Solh, eine libanesische Künstlerin, vor zwei Jahren gemalt hat. Oben hat sie in einen gesonderten Rahmen geschrieben: » Liebe für die Freiheit «. Sie fand in unserer Geschichte eine Inspiration, die mit Liebe und Freiheit verbunden ist. Es gibt etwas äußerst Schmerzhaftes in unserer Geschichte, und etwas sehr Seltenes und Seltsames, etwas Geheimes und Unsichtbares, etwas, was mit Symbolik aufgeladen ist, und etwas Mehrdimensionales und Vielschichtiges. Ich weiß das von fremden Menschen, Syrern wie Nicht-Syrern. Aber die Kombination des Seltenen, Schmerzhaften, Seltsamen, Verborgenen, Symbolischen und Multidimensionalen ist es, was unsere Geschichte beispielhaft, allgemein und unerschöpflich macht. Es obliegt mir, dies weiterhin auszuloten und neue Wege zu erkunden, um sie zu erzählen.

In deinem Lied heißt es:

» Dein Geliebter ist ein Fremder / und du bist bei deiner Familie! «

Dein Geliebter ist nicht so fremd wie du es bist, meine liebste abwesende Gefangene, aber auch er ist ein Fremder, der nicht bei einer Familie lebt. Du, Sammour, warst seine ganze Familie.

Ich küsse dich, mein Herz

Yassin

Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Dieser Text erschien zuerst im Faust-Kultur Magazin.